Tag 9
Am 15. März spazierte ich mit Guapa am späten Nachmittag wieder über den Brudergrundweg, die Sonne verschenkte noch immer wärmende Strahlen, welche auch durch die hohen Baumwipfel drangen. Die Schöne hatte ein dunkelrotes Brustgeschirr erhalten und fühlte sich sichtlich wohl darin, scharrte entdeckungsfreudig in Erdhaufen und zeigte durch das fast gänzliche Aufstellen ihrer Rute Entspanntheit, ja Freude an dieser Zweisamkeit.
Auf einer Distanz von vielleicht 25 Metern näherte sich ein junges Ehepaar mit einem Kinderwagen. Mit Guapas Wahrnehmung einer für mich nicht assoziierbaren Bedrohung blockierte sie vollständig. Im Nachhinein und während des Schreibens kommt mir in den Sinn, dass die reinen Gegenlicht-Umrisse eine Bedrohung dargestellt haben könnten. Die üblichen Motivationsversuche verkehrten sich ins Gegenteil, Guapa geriet mehr und mehr in Panik, wand sich, schlüpfte letztlich panisch durch das Brustgeschirr und hetzte in den Wald. All meine Rufe, mein Flehen erreichten sie nicht mehr, leer hallten meine Bitten wider, sie möge sich zeigen.
Trotz der vielen Gabelungen nahm ich den gleichen Weg zurück, unablässig ihren Namen flüsternd, laut rufend, unablässig suchend hinter Holzstapeln, in Senken, an Bretterverschlägen oder sonstigen Versteckmöglichkeiten. Aus der Waldlichtung heraus überquerte ich die Wiesen, die wir gemeinsam gegangen waren. Am Feldrain dann sah ich sie und beging erneut den Fehler, sie laut zu rufen. Heute weiß ich, dass dies zu einer Verkehrung des gewünschten Zieles führt. Guapa wich auf einen rechtwinkligen Weg aus, hetzte über eine Bergkuppe und verschwand damit aus meinen Augen.
Neben seitens Christine initiierter, fast zweistündiger abendlicher Taschenlampen-Nachforschung, vielen Telefonaten und Emails (Andrea - alias "Pflegemama", TASSO, Tierheime, Tierärzte, Forstamt, Stadtverwaltung), den persönlichen Kontakten zu Pettrailern noch weit nach Mitternacht, den eigenen Vorwürfen die Unsicherheit...

Trotz Hilfe, guter Tips, Verständnis und Trost von vielen Seiten hielt es uns nicht mehr im Haus. Stundenlange Suchen gehörten zur Tagesordnung, hatten Vorrang. Für die erste Nacht legte ich eine Trockenfutter-Spur vom Feldrain bis zum Haus, eine komplette Packung "Leerdamer" wurde neben getragenen Socken auf Treppe und Terrasse ausgebracht. Am Morgen danach schlichen sich ob des restlosen Verschwindens Zweifel ein. Fuchs, Marder, Katzen, sie alle hätten die Verzehrer gewesen sein können. In der Morgendämmerung des Folgetages allerdings konnte Christine tatsächlich Guapa ausmachen, die - sich nach allen Seiten sichernd - eine Schüssel voller Trockenfutter leerte. Die Schöne zeigte Verhaltensmuster. In der Abenddämmerung zwischen 18.00 Uhr und 19.00 Uhr riefen uns Spaziergänger an, sie hatten Sichtkontakt, beschrieben den gleichen Ablauf und darauf basierte unser Plan.
Fünfzehn Meter Seil (welches auf Christines Drängen nach einem Vorabtest riß und nur durch weibliche Intuition mittels Nylon ersetzt wurde), gespannt vom angekippten Bürofenster bis zur weit offenen, um die Ecke befindlichen Haustür. Vier Uhr klingelt der Wecker, eine Zigarette draußen wagt man nicht und ist drinnen tabu. Kein Kaffee(duft). Jede noch so kleine Veränderung im sinnlichen Umfeld könnte Guapa mißtauisch werden lassen. Der Flur ist wegen der räumlichen Begrenzung befreit vom Schuhschrank, in der nunmehr hintersten Ecke befindet sich ein Futternapf mit frischem Rohfleisch, nur grob geschnitten, um dem Verschlingen und der damit zeitlich geringeren Toleranz zu begegnen. Sitzen unter dem Fenster und warten, während das Seil sich ob des stetigen Straffhaltens einschneidet in die Finger.
Gegen 5.20 Uhr Geräusche, so, als würden winzige Gummibälle die Steintreppe herunterpurzeln. Guapas Pfoten! Adrenalin pur! Plötzlich springt Bianco auf, ausgerechnet er, der sonst nichts mehr hört. Der Weiße bewegt sich zur Glastür und winselt leise. Die Schöne wendet sich zur Flucht, erkennt erst im letzten Moment ihren "Beschützer" und nimmt ihr Futter an. Eine Tür fällt martialisch ins Schloß...

Ein Tier jahrelanger Wildnis hat seine Heimat gesucht (ob es sie gefunden hat, wird sich noch entscheiden), liegt unter dem Küchentisch, schnarcht und furzt, sodaß sich Bianco eine etwas entferntere Liegestatt wählt.