Tag 4
Der Unterricht beginnt.
Ich suchte mit Guapa die gleiche Spazierroute der vergangenen beiden Tage was den Hinweg betraf. Für den ihr unbekannten, leicht abschüssigen Rückweg im Brudergrund hatte ich mir ein konkretes Training erdacht. Auf etwa eineinhalb Kilometern Länge übten wir unablässig folgenden Ablauf:
Schneller Schritt → Guapa kommt dadurch etwas in Vorsprung → ich verlangsame unmerklich und halte mit ausgestrecktem Arm die Leine in Form eines "L", sodass sie sich auf gleicher Höhe geführt fühlt → Guapa kommt in größeren Vorsprung → ich laufe direkt hinter ihr. Sobald sie nach hinten schaut und noch bevor sie sich dieser Tatsache bewusst wird, beschleunige ich meinen Schritt, ohne sie anzusehen und überhole sie.
In den ersten Übungen klappte das kurz bis auf Höhe ihrer Hinterläufe. Je weiter wir allerdings trainierten, desto mehr gelang es mir, mich tatsächlich hinter ihr zu bewegen. Nach einer geschätzten Distanz von einem Kilometer und weit über hundert Übungen lief ich mit gänzlich ausgestrecktem Arm hinter ihr, auch dann, wenn sie die Seite wechselte und ohne dass sie (Verfolgungs-)Ängste zeigte oder sich umschaute. Als ich versehentlich etwas laut auftrat, zuckte sie ein wenig, nahm sich jedoch nicht zurück.
(Leider lehnt Guapa momentan im Freien Leckereien ab, sodass ich sie "nur" mit Streicheleinheiten belohnen konnte für diesen Fortschritt.)
Der Brudergrund beherbergt ein ausgedehntes Rehgehege. Ich nutzte nach dieser Übungsphase die Gelegenheit, unserer Schönen Rehe und Hirsche zu zeigen, Tiere, die weit größer sind als sie und die auf Spaziergänger (selbst mit Hund) futtergierig zutraben. Bedingt sicher auch durch den Wildgeruch überwog ganz offensichtlich ihre Neugier.
Wenige Augenblicke nach dieser Rast bewegten wir uns auf ein lauthals mit seinem Vater tobendes Kind im Alter von vielleicht acht Jahren zu. In der Niederung des Rehgeheges fängt sich jeder Schall und vervielfacht sich. Zudem konnte sie die in einer Senke Befindlichen nicht ausmachen. Mit einer ganzen Schar von Kindern rechnend, blockierte Guapa restlos und abrupt. Die üblichen Motivationsabläufe zeigten keinerlei Wirkung, immer mehr versuchte sie, sich hinter einem hohen Stein zu verkriechen, geeigneter noch und willensstark den Rückzug anzutreten. Ich hockte mich neben sie, streichelte ihr beruhigend das Fell und sagte: "Jetzt ist guter Rat teuer, meine Kleine!" In diesem Moment hielt ich ihr intuitiv viele Sekunden lang einfach die Ohren zu. ...
Ein Hunde-Profi hätte ob dieser Tatsache sicher die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, doch hausgemachte Rezepte sind immer noch die besten.
...kraulte gleichzeitig ihren Hals, sprang auf und... Guapa folgte.
Schnell übernahm sie die Führung, um mit eingeklemmter Rute in geduckter Haltung an den beiden noch immer tobenden Menschen vorbeizukommen. Ich bremste sie aus, sprach beruhigend auf sie ein. Im fast gemeisterten "Moment des Grauens" blieb ich stehen, Vater und Sohn bewegten sich, noch immer fröhlich-krakelend, auf uns zu, an uns vorbei, Schritte voraus. Bei permanent beruhigender Stimme führte ich Guapa an kurzer Leine erneut an beide heran, wir überholten, warteten, ließen uns überholen und begannen die Konfrontation von vorn. Mehr und mehr entspannte sie dabei, setzte sich, als wir warteten, folgte ohne Motivationshilfe wieder, um zu überholen und erneut geduldig zu warten. Auf ihren fragenden Blick hin antwortete ich: "Ja, das muß sein!" und für längere Zeit schauten wir uns erstmals in die Augen.
Für diese tolle Leistung durfte sie mir dann den Weg nach Hause zeigen. Wir brauchen unbedingt eine längere Leine, denn sobald die Schöne mehr Selbstvertrauen gewinnt, muss sie die Bedeutung der Worte STOP und KOMM erlernen!