Tag 11
Mit freundlicher Genehmigung von Stefan, der per Email sehr weiterhilft, um Guapa zu verstehen:
Hi Steffen, danke für deine ausführliche Mail und den Hinweis auf Guapas grandiose Website.
Wusstest du, dass sich ein Hundewelpe im Alter von ca. 4 bis 14 Wochen (je nach Rasse und Lebenssituation variieren diese Altersangaben etwas) in einer so genannten sensiblen Phase befindet? In der ist er besonders empfänglich und neugierig bezüglich seiner Umwelt. Die Phase nennt man auch Prägephase. In dieser Phase werden soziale Kontakte und Umweltreize, mit denen der Hund in dieser Zeit neutrale oder positive Erfahrungen macht, in das Bild seiner normalen und nicht bedrohlichen Umwelt integriert. Dinge, Situationen oder Lebewesen, die ein Hund in dieser Zeit nicht kennen lernt, werden von ihm später unter Umständen als Störfaktoren in seiner Umwelt betrachtet, die es zu vertreiben oder zu meiden gilt.
Tipp: Woran kannst du den Sozialisierungsstatus deiner Hundes erkennen?
Wenn der Hund auf Reize in seiner Umwelt ungewöhnlich heftig oder oft schreckhaft reagiert, wie eben zum Beispiel auf Geräusche, Autos oder Personen, dann könnte es an einer fehlenden Sozialisierung liegen. Angst und Meideverhalten sind weitere häufige Anzeichen einer mangelnden Gewöhnung in der Prägephase.
Wie verhalte ich mich am besten, wenn ich sehe, dass mein Hund schreckhaft auf Teile seiner Umwelt reagiert?
Wichtigster Tipp: Nimm Rücksicht! Wenn du bei deinem Hund ängstliches Verhalten, Meideverhalten oder Schreckhaftigkeit vor bestimmten, für dich erkennbaren Situationen oder Reizen wahrnimmst, dann geh diesen Reizen vorerst möglichst aus dem Weg. Erspare dem Vierbeiner wenn möglich den Stress! Wenn ich höre „Da muss er durch!“ oder „Da muss er sich dran gewöhnen!“ könnte ich die Krise kriegen. Wirklich rücksichtsvoll und konstruktiv ist es, wenn du Problemsituationen behutsam angehst und deiner vierbeinigen Gefährtin erst einmal die nötige Sicherheit durch deine Nähe vermittelst.
Natürlich lässt sich auf eine unzureichende Sozialisierung in bestimmten Maße und unter bestimmten Voraussetzungen auch später noch Einfluss nehmen, doch zu keinem späteren Zeitpunkt seiner Entwicklungsphase wird ein Hund die Möglichkeit haben, sich an seine Umwelt so anzupassen (also Menschen, Kinder, Katzen, Pferde, Autos, Geräusche, u. v. m. kennen zu lernen), wie in der Prägephase. „Fehler“ oder „verpasste Möglichkeiten“ während der sensiblen Phase sind daher gewöhnlich nicht mehr reversibel.
Hunde lernen vor allem über die Verknüpfung von Empfindungen mit Situationen, Dingen und Lebewesen. Beispiel: Ein Hund, dessen Rute in einer Autotür eingeklemmt wurde, kann den wahrgenommenen Schmerz mit allen möglichen Dingen, die er in diesem Moment ebenfalls wahrgenommen hat, verknüpfen. Das kann soweit gehen, dass zum Beispiel eine Oma, die in diesem Moment mit ihrem Rollator am Auto vorbeiläuft, nunmehr für immer die eigentliche Gefahr darstellt.
Sind bestimmte Dinge oder Situationen erst einmal mit der Erfahrung von Schmerz oder Schreck in Zusammenhang gebracht worden, lässt sich diese Einheit nur schwer wieder auflösen. Besonders problematisch ist die Tatsache, dass solche Verknüpfungen sich immer weiter auf immer mehr Dinge ausbreiten können.
Ich will wieder das Beispiel aufgreifen: Der Hund erschreckt sich nun vor einer unvorhergesehen um die Ecke kommenden älteren Frau mit Rollator und im selben Moment fährt ein Bus vorbei. Der Schreck vor der älteren Frau wird nun eventuell auch mit dem Bus in Verbindung gebracht und fortan wird dieser Hund möglicherweise auch Angst vor Bussen haben. Im Laufe der Zeit macht er die Erfahrung, dass die gefürchteten Busse häufig mit Personengruppen in Verbindung stehen, die ein oder aussteigen und nun werden vielleicht auch Ansammlungen mehrerer Personen zu Angstauslösern.
Bei sehr sensiblen Hunden können negative Erfahrungen und Traumata auf diese Art zu Selbstläufern werden, die fortlaufend neue Negativverknüpfungen entstehen lassen. Nach und nach werden immer mehr Bereiche im Alltag des Hundes mit Angst besetzt, so dass es Hund und Halter zunehmend unmöglicher wird, die Angst durch Meidung bestimmter Situationen zu verhindern. In solchen Fällen ist eine Verhaltenstherapie unumgänglich, um stressbedingten, gesundheitlichen Schäden des Hundes vorzubeugen.
Tipp: Löschen von negativen Früherfahrungen oder Fehlverknüpfungen:
Solltest du oder die Verhaltenstherapeutin eine solche Fehlverknüpfung bzw. negative Früherfahrung eindeutig erkennen können, ist es unter Umständen möglich, diese durch eine so genannte Gegenkonditionierung zu lindern oder sogar zu löschen. Dabei wird diese Verknüpfung sozusagen umgepolt; einfach ausgedrückt: der angstauslösende Reiz wird ganz vorsichtig, sehr langsam und behutsam in Verbindung mit positiven Situationen/Bestärkungen/Belohnungen präsentiert, mit dem Ziel, dass der Hund später mal auf den früher negativ wirkenden Reiz neutral oder sogar positiv reagiert. Hierzu aber solltest du wirklich eine Therapeutin hinzuziehen!
Bedenke auch mal: Guapa ist eine Bardina, ein Hütehund. Hütehunderassen werden über Generationen hinweg auf ein besonders sensibles Gehör hin gezüchtet und bilden daher häufig Ängste gegenüber lauten oder unbekannten Geräuschen aus.
Fühlt sich ein Hund durch die Annäherung oder ein bestimmtes Verhalten fremder Menschen, Kinder, anderer Hunde, etc. bedroht, versucht er, seine Furcht in der Regel schon recht früh durch Körpersprache mitzuteilen. Unter anderem hierbei existieren unserer Erfahrung nach die größten Missverständnisse in der Kommunikation zwischen Mensch und Hund, weil viele Hundehalter und sogar Experten nicht in der Lage sind, diese Körpersprache richtig zu sehen bzw. zu deuten. Aber das ist schon wieder ein neues Thema. Ich schreib dir morgen noch mal.
Gruß an die Kleine!
(Mich würde brennend interessieren, wie sich Guapa an einer Ziegenweide/einem Ziegengehege verhält!)
Im Moment bin ich Schüler der - nun sagen wir - dritten Klasse. Am Tag 1 schrieb ich "Es wird nicht einfach mit ihr. Ganz und gar nicht einfach."
Zuhause ist Guapa nicht die Herausforderung. Jeden Tag wird sie ein klein wenig interessierter und frecher. Um ihr Streicheleinheiten zukommen zu lassen, müssen wir nicht mehr auf bestimmte Bewegungsabläufe achten. Das Ausweichverhalten bei herabgleitender Hand und die Angst gegenüber der frontalen Körperposition verflüchtigen sich. Außerhalb der uns umgebenden "Schutzmauern" aber beginnt man völlig neu zu denken, wahrzunehmen.
Die Verhaltenstherapeutin, welche am kommenden Dienstag erstmals den nachmittäglichen Spaziergang begleitet, stellte während des heutigen Telefonats eine bezeichnende Frage: "Sie erwägen doch aber hoffentlich nicht, die Hündin wegen ihrer Probleme ins Tierheim zurück zu geben?" ... Ich konnte das Lachen nicht unterdrücken. "Nein, deshalb haben wir sie ja zu uns geholt!"